Vereinfacht dargestellt sprechen wir in der heutigen Zeit von der «Schulmedizin», welche wir schnell mit unserem Hausarzt, einem Spitalaufenthalt oder chemischen Arzneimitteln assoziieren. Auf der gegenüberliegenden Seite finden wir die «Naturheilkunde», bei welcher von ganzheitlicher Sicht der Dinge gesprochen wird und natürliche Zubereitungen empfohlen werden. Manche Menschen versuchen verkrampft an dieser Einteilung in Chemie und Natur, an diesem Schwarz-Weiss-Denken festzuhalten – es ist nicht nötig. Beide Bereiche besitzen ihre Stärken und arbeiten mit ihren Erkenntnissen und Erfahrungen, daher sollte die Energie auf eine kluge Zusammenarbeit gerichtet werden und nicht auf destruktives Konkurrenzieren. Unabhängig von Art und Fachrichtung der Therapeuten sollten die Behandelnden ihre Kernkompetenzen kennen, genauso müssen sie ihre persönlichen Grenzen respektieren. Ein sinnvolles Miteinander eröffnet eine Vielzahl an Möglichkeiten methodenübergreifender Lösungsansätze, über die Grenzen des Einzelkämpfers hinaus. Im Weiteren muss uns modernen Menschen klar sein, dass es zu Urzeiten keine klar definierte Trennung oder gar Wertung in «gut» und «schlecht» gab. Die Geschichte der Medizin beginnt mit der Geschichte der Menschheit, in jener Zeit nutzten sie jegliche Aspekte, welche ihnen zur Verfügung standen, um Krankheit zu überstehen und vorzubeugen. Wissen aus verschiedenen Bereichen fügten sich zusammen, wie beispielsweise Medizin, Physik, Chemie, Botanik, Philosophie, Religion und Humorallehre. So bildete sich eine ganzheitliche Sicht auf das Leben und ermöglichte ein vertieftes Verständnis für Gesundheit, Krankheit und Heilung.

Die Wurzeln der Medizin liegen weit zurück und entsprangen der Gesundheitserhaltung nach natürlichen Grundsätzen. Zu den ältesten Medizinalsystemen zählen der Ayurveda (geschätzt 5000 v. Chr.) und die Traditionelle Chinesische Medizin TCM (geschätzt 4000 v. Chr.). Zahlreiche Heilkundige und Gelehrte prägten die Geschichte und die Entwicklung der Heilkunst. Die Spuren der Traditionellen Europäischen Naturheilkunde, kurz TEN, lassen sich bis 4000-3000 v. Chr. zurückverfolgen, von wo erste Keilschrifttexte mit pflanzlichen Heilmittelanwendungen stammen.

Ein weiterer Zweig der TEN entwickelte sich im alten Ägypten (ab 2500 v. Chr.), wo bereits mit Heilpflanzenanwendungen und rituellen Reinigungsverfahren gearbeitet wurde. Aus ständigem Beobachten von Naturprozessen, Suchen, Prüfen und Erproben bildeten sich in vielen Kulturkreisen der Erde vielschichtige Erklärungsmodelle rund um zahlreiche Lebenserscheinungen. Das Interesse und das Ziel dieser Heilkünste war es, das Gesund- und Kranksein zu begreifen und zu erklären.

In Europa entstanden solch grundlegende Impulse um 500 v. Chr. in den naturphilosophischen Schulen Griechenlands. Über Jahrtausende gesammelte Erfahrungswerte bildeten einen wichtigen Bestandteil traditioneller Medizinalkonzepte und formten das spätere Modell der vier Elementen mit. Durch Weiterentwicklung der Elementenlehre ging die Humoralmedizin hervor, die bis ins 18. Jahrhundert n. Chr. die tragende Säule der Medizin darstellte und bis heute ein wichtiger Bestandteil der Traditionellen Europäischen Naturheilkunde bildet.

Das jahrhundertealte Wissen wurde von der Pflanzenheilkunde, über die naturwissenschaftlich orientierte Medizin, bis hin zur Philosophie geprägt und als funktionierende Heilkunst entwickelt. Durch die wissenschaftliche Revolution im 18. und 19. Jahrhundert verlor die Naturheilkunde ihre Bedeutung. Denken reduziert sich zunehmend auf materielle Aspekte. Theorien, welche sich nicht rational erklären lassen, existieren nicht. Tiefe Eingriffe in den menschlichen Körper und die darin ablaufenden biochemischen Prozesse ersetzten Schritt für Schritt natürliche Heilanwendung und -mittel. Mit der Wissenschaft gewann die Medizin viel Genauigkeit und Reproduzierbarkeit. Unbestreitbar hat uns die moderne Medizin viele grossartige Errungenschaften gebracht und manchen Krankheitsbildern den früheren Schrecken genommen. Verloren gingen dabei leider häufig die komplexeren Zusammenhänge im Gesamtsystem Mensch, wobei der seelische Aspekt eine essentielle Rolle spielt. In der Naturheilkunde wird der Mensch als ganzes Wesen erfasst, mit seinen Stärken und Schwächen, mit seinen Reaktions- und Verhaltensmustern, mit seiner Geschichte. Aus Sicht der modernen Naturwissenschaft wird dabei anatomisch und pathologisch ein relativ unscharfes Bild abgebildet, da Fakten und Zahlen fehlen. Der springende Punkt ist, dass genau diese Unschärfe die Stärke der Naturheilkunde ist. Das Sehen und Verstehen des individuellen und lebendigen Gesamtbildes wird möglich, das Detailwissen tritt dabei in den Hintergrund.

Zu Beginn des 21. Jahrhundert treffen nun tief verwurzelte und altbewährte Heiltraditionen auf fortschrittliche und neue Methoden. Ein Zusammenschluss der naturheilkundlichen Erfahrungsmedizin und Erkenntnissen aus der modernen Medizin können eine Spannweite annehmen, bei welcher eine unvergleichbare Dynamik entsteht. Ganz nach dem Motto: «Miteinander, nebeneinander, füreinander – geht nicht alleine.»